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Männer und Frauen im Alter von
25 bis 80 Jahren. Alle mit ihrer
ganz persönlichen Geschichte
und individuellem Leidensdruck.
„Jeder schiebt einen riesigen
Berg vor sich her“, weiß Wolfgang
Chlebna aus eigener Erfahrung.
Er gründete vor vier Jahren mit
seinem Freund Karsten Lamche
die erste Selbsthilfegruppe der
Lebensfreunde in Marl.
Wolfgang Chlebna stand damals
selbst nach zwei Herzinfarkten,
schwerer Gelenkerkrankung und
Firmenpleite auf dem Dach und
wollte springen. „Glücklicher-
weise hat mich jemand davon
überzeugt, es nicht zu tun“, sagt
er heute. Als sich nach dem Klini-
kaufenthalt auch noch seine Frau
von ihm trennte, stand er vor der
Wahl, das Gegebene zu akzeptie-
ren und zu lernen, damit umzuge-
hen, oder weiter machen wie bis-
her. „Irgendwann habe ich dann
gedacht, das kann nicht alles ge-
wesen, ich wollte drüber reden,
über diese Krankheit, die einem
allen Lebensmut nehmen kann
und möglichst viele Menschen
darauf aufmerksam machen, wie
schnell das gehen kann, was da-
hinter steckt, wenn es heißt, dass
jemand depressiv ist.“ Drei Selbst-
hilfegruppen boten die Freunde
damals in Marl gemeinsam an,
doch die waren schnell voll und
„wir wussten nicht mehr wohin
mit den Leuten“.
Das Problem: Es gibt oftmals vor
Ort viel zu wenig Möglichkeiten
für Beratung und Therapie. Auf
die Schnelle einen Termin für
eine psychologische Beratung zu
erhalten ist schier
unmöglich, ein hal-
bes Jahr Wartezeit
die Regel. Wolfgang
Chlebna fand in Hal-
tern und Dorsten
mehrere Räumlich-
keiten mit mittler-
weile insgesamt vier
Treffpunkten
und
ist mittlerweile an
sechs Tagen in der
Woche zu gemeinsa-
men Treffen unterwegs. „Wir hel-
fen jedem, der sich an uns wendet
oder leiten ihn weiter, allerdings
können wir weder Arzt noch The-
rapeuten ersetzen!“ Aber trotz-
dem können die Mitglieder einer
Selbsthilfegruppe sich gegensei-
tig soviel geben. Das Zuhören, das
Verständnis, das Sicht-nicht-mehr
Verstecken müssen, alles Dinge,
die doppelt zählen, wenn die eige-
ne Welt aus den Fugen gerät. Weil
Familie, Freunde und Kollegen so
selten
verstehen,
was gerade ge-
schieht, manchmal
erst dann, wenn es
zu spät ist. Denn
auch das ist den
meisten bewusst:
„Depressionen sind
tödlich,“ sagt Wolf-
gang Chlebna.
Die, die sich zum
Zeitpunkt unseres
Besuch mit ihm in
Haltern-Sythen treffen, ein weite-
rer Mann und vier Frauen, sind alle
teilweise schon einen langen Weg
gegangen. Der Tod eines Ange-
hörigen, eine schwere Krankheit,
ungelöste Eheprobleme oder zu
viel Stress im Job – Depressionen
lassen sich nicht mit einem Wort
umschreiben, fast jeder lebt sie
anders, nur die Symptome sind
fast überall gleich. „Ich habe im-
mer Gas gegeben, stand ständig
unter Volldampf und dachte, das
schaff´ich alles mit links, aber ir-
gendwann ging nichts mehr“, er-
zählt Dörte. Der Körper hielt dem
Druck nicht mehr stand, weigerte
sich, zu funktionieren. Manche
können nicht einmal mehr ihr
Bett verlassen. Rufen nachts den
Notarzt, weil sie so starkes Herz-
rasen haben, dass sie einen In-
farkt vermuten. Essen kaum noch
und fahren schnell aus der Haut.
„Und dann das ständige Geheule,
das wollte ich meiner Familie ein-
fach nicht mehr zumuten“, sagt
Simone. Sie hat all die Jahre über
gekämpft, immer wieder etwas
anderes entdeckt, was hilft gegen
den alles umhüllenden Schleier
der Tatenlosigkeit. Und suchte
beständig nach einem Austausch
mit Gleichgesinnten. Denn die
anderen hören irgendwann nicht
mehr zu. Zu mühsam, zu zermür-
bend sind die Gespräche über im-
mer und immer wieder dasselbe
Thema.
Denn selbst wenn vor wenigen
Jahren Robert Enkes tragischer
Selbstmord – er war Torwart bei
Hannover 96 – Depression als
SEELE IN
FESSELN
SELBSTHILFEGUPPEN
LEBENSFREUNDE
IN DORSTEN UND HALTERN
GEBEN MENSCHEN
MIT DEPRESSIONEN HALT
VON SUSANNE BRZUSKA
„Es ist so anstrengend zu sagen, ich kann nicht mehr.“ Andrea
(Name geändert) kämpft seit mehr als zehn Jahren mit der Krank-
heit, von der nahezu jeder Zweite – direkt oder indirekt – betrof-
fen ist und über die trotzdem niemand gerne spricht: Depressio-
nen. Sie besucht eine Selbsthilfegruppe in Haltern, vor rund vier
Jahren gegründet und der Ansturm zeigt, wie groß der Bedarf an
informativem Austausch ist.
Wolfgang Chlebna, Mitbe-
gründer der Lebensfreunde.
SONDERVERÖFFENTLICHUNG