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Krankheit in den Fokus gerückt
hat, das größte Verständnis finden
Betroffene immer noch im Erfah-
rungsaustausch untereinander. Je
nachdem, wie lange es dauert, ist
es auch für Angehörige schwierig,
mit einem Menschen umzugehen,
der an Depressionen erkrankt ist.
Die Krankheit ist tückisch, äußert
sich in vielen unterschiedlichen
Varianten. Angst vorm Autofah-
ren, vor zu vielen Menschen, Angst
vor Lärm, einfach nervige Vergess-
lichkeit. Körperliche Beschwer-
den, die sich bemerkbar machen
und doch nicht wirklich existieren.
Und das ist dann nicht plötzlich
alles weg, nur weil gerade ein Kli-
nikaufenthalt anstand.
„In unserer Familie gibt es kei-
ne Depressionen“ ein Satz, den
sich nicht wenige Kranke anhö-
ren müssen. Stark sein, nicht
schwach, ist oft das Einzige was
die Außenwelt gelten lässt. Dar-
um halten sie still, schweigen und
leiden. Fressen Trauer, Wut und
Angst in sich hinein. Solange, bis
gar nichts mehr geht. Manchmal
zeigt der Körper von ganz allein,
wo die Grenzen sind. Oft ist es
dann zu spät. „Das Problem ist,
dass wir alle Weltmeister im Ver-
stellen sind“, sagt Annemarie.
Es einfach offen legen, dazu zu
stehen, zu sagen, „ja, ich bin de-
pressiv“ ist ein erster, wichtiger
Schritt, der aber doch so schwer
sein kann. Weil das Verständnis
fehlt. Gleichzeitig liegt ihnen je-
doch so viel daran, Außenstehen-
den die Krankheit näher zu brin-
gen. Den Ehepartnern, die an der
mangelnden Aufklärung oft ver-
zweifeln. Den Kindern, die sie oft
nicht mehr verstehen. Den Freun-
den, die oft nicht mehr wissen,
wie sie mit ihnen umgehen sollen.
Und noch etwas gehört zu den
wesentlichen und oft unabding-
baren Nebenwirkungen einer De-
pression: „Das Schlimme ist, dass
du immer Angst umdeine Existenz
habenmusst, zu demGanzen, was
sonst noch in deinem Kopf rum-
schwirrt“, sagt Petra (43). Wenn
sie die Klinikaufenthalte der ver-
gangenen zehn Jahre zusammen
rechnet, „war ich vier Jahre am
Stück krank.“ Irgendwann war
dann das Krankengeld weg, noch
ein wenig später das Ersparte.
„Ich wollte ja zurück in meinen
Beruf, ich wollte nie zu Hause blei-
ben. Aber es ging nicht. Was mich
so traurig macht: Ich hatte einen
gewissen Lebensstandard, der ist
definitiv weg. Und damit bin ich
nicht allein.“
Sie alle gehören in der Selbsthil-
fegruppe zu einer Gemeinschaft
depressiver erkrankter Menschen,
die allesamt ähnliche Erfahrun-
gen mit dieser heimtückischen
Krankheit haben, über die lieber
geschwiegen wird als geredet.
Und sagen über sich selbst: „Man
sieht uns unsere Krankheit nicht
an, wir sind alle Meister im Ver-
stellen.“ Sie haben es sich zur Auf-
gabe gemacht, in Gruppenarbeit
über ihre Situation zu reden, um
die Kraft zu finden, offen mit ih-
rer Krankheit umzugehen. Inder
Gruppe kann jeder sein, wie er ist.
Einfach krank sein.
So können zum Beispiel in der
Blitzrunde zu Beginn jeder Grup-
penstunde alle mit zwei, drei
Worten die kurze Frage beant-
worten: „Wie geht es dir?“ Dazu
kann jeder sagen, was ihn gerade
bedrückt, ob er ein besonderes
Thema hat. Anschließend geht’s
tiefer, werden die Probleme jedes
Einzelnen diskutiert, besprochen,
kommen Tipps und Hilfestellun-
gen. „Mir geht es nicht gut, mein
Knie.“ „Mir geht es nicht gut, ich
habe immer Kopfschmerzen.“
„Mir geht es gut, ich habe gerade
kein Problem.“ Sie alle wissen, in
der Gruppe kann man nichts Fal-
sches sagen oder machen. Weil
vieles so ähnlich ist und vor allem
das Verständnis da ist. Die Grup-
pe der Lebensfreunde trifft sich
einmal pro Woche in verschie-
denen Gruppen in Dorsten und
Haltern am See. Maximal acht
Teilnehmer sind dann da-
bei. „Das ermöglicht es uns,
dass jeder seine Sorgen und Nöte
loswerden kann“, sagt Wolfgang
Chlebna.
Wie groß der Bedarf ist, zeigt der
Ansturm auf die Gruppen in Marl,
Dorsten und Haltern deutlich.
Dennoch: Jeder muss sich seinen
eigenen Krückstock suchen und
auf dem Weg zurück in den Alltag
immer wieder die Frage stellen:
„Was tut mir gut.“ Die Selbsthil-
fegruppen sind kein Therapieer-
satz. „Los werden wir es nie, aber
man kann lernen, damit umzu-
gehen“, sagt Wolfgang Chlebna.
„Unser Wunsch ist es, uns gegen-
seitig zu stärken, so dass wir zu-
nehmend in der Lage sind, den
Alltag zu bewältigen.“
Das Aufsuchen eines Psychiaters
oder Therapeuten kann ein ers-
ter Schritt zu Hilfe sein. Wer dort
keinen zeitnahen Termin erhält,
kann sich bei den psychologi-
schen Beratungszentren (PBZ)
oder dem psychosozialen Dienst
(Gesundheitsamt) in der jeweili-
gen Stadt melden. Adressen und
Telefonnummern von Neurologen
und Psychotherapeuten geben
die Mitglieder der Selbsthilfe-
gruppe gerne auf Anfrage weiter.
info
Die Treffen der Lebensfreunde finden einmal
pro Woche zwischen 17 und 21 Uhr statt in:
Weitere Infos unter
DORSTEN,
Westwall 11, 46282 Dorsten
HALTERN PAUL-GERHARDT-HAUS,
Reinhard-Freericks-Straße 17,
45721 Haltern am See
HALTERN IM BLICKPUNKT
IM ORTSTEIL SYTHEN,
Zum Blickpunkt 49, 45721 Haltern-Sythen
HALTERN IM GEMEINDEZENTRUM
IM ORTSTEIL FLAESHEIM,
Bodelschwinghstraße 10,
45721 Haltern am See
Auf der Suche nach gemeinsamen Treffpunkten half insbesondere die
evangelische Kirche in Haltern.
SONDERVERÖFFENTLICHUNG