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Heute treffe ich mich mit...
Gebäude erinnern, die es jetzt
schon lange nicht mehr gibt. An
den Drubbel zum Beispiel, der
kleinen Häuserinsel mitten auf
der damaligen Einkaufsstraße,
auch das „Meyersche Haus“ ge-
nannt. „Manchmal sehe ich im
Geiste noch die alte Frau, die
dort gelebt hat und regelmäßig
mit einer Schüppe die Pferdeäp-
fel aufsammelte, um ihr Gemüse
damit zu düngen“ schmunzelt
sie. Leider wurden mit dem Drub-
bel auch etliche andere Häuser in
Dorsten zerstört, das Restaurant
Freitag im Lippeloch zum Beispiel
oder das Franziskanerkloster, nur
um einige zu nennen. „Nur das
Seidemannshaus,
das blieb stehen.“
Die Angst vor den
Angriffen war da-
mals immer prä-
sent. „Gab es Alarm“
so erzählt die äu-
ßerst sympathische
alte Dame weiter,
„nahmen wir den
stets gepackten Kof-
fer, schnappten uns
das Erstbeste zum
Essen und machten
uns geduldig auf in
Richtung der Schutz-
räume.
Geduld.
Habe
ich
heutzutage eigentlich
noch Geduld? Verlan-
ge ich nicht schon un-
Berührungsängste kennt die 86-
jährige nicht, wer zur Essenszeit
ihrer Tochter auf der Schildkrö-
tenstation hilft, bleibt halt. So
wird dann um halb eins ein Teller
mehr dazu gestellt. Das ist so, war
immer so und wird auch immer so
bleiben.
Hier im Hause Klobusch werden
keine Salatblätter in das kalori-
enarme Dressing gedippt, hier
wird herzhaft zugelangt, denn die
Hausherrin kocht mit Liebe und
mit Kalorien. Es interessiert nie-
mandem, ob das Blumenmuster
der Servietten farblich zumGemü-
se passt, hier steht die Gesellig-
keit, das Gemeinsame im Vorder-
grund.
So sitzen wir also zu siebt am Es-
stisch und erzählen, lachen oder
hören einfach nur zu. Und dann
erzählt Waltraud, wie ich sie jetzt
auch nennen darf, von früher, vom
Krieg, von ihrer Schule, von Dor-
sten, von ihrer Familie. Geschich-
ten, die spannend sind, amüsant,
aber auch berühren und uns die
Tränen in die Augen treiben.
Das ist Zeitgeschichte pur, vor-
getragen von einer Frau, die seit
ihrer Geburt in Dorsten lebt, ihre
Heimat liebt und die imKopf abso-
lut jung geblieben ist.
Prägend war der zweite Welt-
krieg nicht nur für die Stadt Dor-
sten, sondern natürlich auch für
Waltraud Klobusch selbst. So
kann sie sich noch sehr gut an
geduldig beim Diskounter nach
einer zweiten Kasse, auch wenn
nur drei Personen vor mir an der
Kasse stehen?
Nach einer ganzen Weile steht die
weißhaarige Erzählerin mit den
Worten „Jetzt gibt es erst mal
Kaffee“ auf und geht in die Küche.
Wir helfen ihr beim Abräumen
und beim Neudecken, denn es
gibt auch Kuchen. Das ist hier bei
der Bäckerin aus Leidenschaft ein
Muss.
Sie bringt Fotos mit, alte teilweise
verknickte Schwarz-weiß-Fotos,
manche sogar noch mit Sütterlin-
schrift auf der Rückseite.
„Das bin ich mit meinen
beiden Brüdern, die zum Glück
heil aus dem Krieg zurück gekom-
men sind“ fischt sie ein Bild aus
der Fotoschachtel. Zwei wirklich
fesche Burschen in Uniformen
und zwischen ihnen der hübsche
Teenager. Nicht weniger ansehn-
lich, so wie es auch Kommuni-
onmädchen in der heutigen Zeit
sind, zeigt sie auf einem anderen
Foto 1938 ganz in weiß mit einer
Kerze. „Auch wenn wir nicht viel
hatten, chic wollten wir trotzdem
sein“ klärt uns die Dorstenerin
auf. Manche Mütter haben daher
ihren Töchtern damals Kleider ge-
strickt, in dem sie Kartoffelsäcke
aufgetrennt und die Fäden
aufgewickelt haben.
„Wir brauchten früher keine
so großen Einkaufscentren,
wir gingen nach Hill oder
Bieker, da bekamen wir
auch alles“ erzählt sie wei-
ter „Und unsere Bonbons
kauften wir früher noch mit
abgezähltem Kleingeld im
Selterwasserbüdchen.“ Auf
meine Frage, ob sie denn
schon mal in den Merca-
den war, bekam ich als
Antwort ein klares „nein“.
Offen blieb, ob Waltraud
nicht gewollt oder es ein-
fach dort hin nur noch
nicht geschafft hat.
Wir sehen uns weitere
Bilder an, die natürlich
nicht chronologisch sor-
Ich bin zum Essen eingeladen. Nicht in einem der Dorstener Lokale,
sondern bei Waltraud Klobusch zu Hause, denn sie kocht selbst.
Heute treffe ich…
Waltraud Klobusch
Eine Zeitzeugin erinnert sich
Die sechsjährige Waltraud
Klobusch mit Puppenwagen
im Kindergarten.