Hoch- und Minderleister

von Martina Jansen (Kommentare: 0)

Hoch- und Minderleister

Hochbegabung hat viele Gesichter

„Durch meine Schulzeit bin ich problemlos durchgekommen“, erzählt mir Dr. Stefanie Marzian. „Ich musste nicht viel lernen, hatte dennoch immer einen guten Notendurchschnitt.“ Sie war immer leistungsstark, aber kein Überflieger und dass sie hochbegabt ist, das ahnte Steffi lange nicht.

„Ich hatte eine Superzeit in meiner Jugend, morgens zur Schule und dadurch, dass ich nicht lernen musste, hatte ich nachmittags immer viel Freizeit,um zahlreiche Hobbys auszuprobieren. So leitete ich den Jugendgottesdienst in der evangelischen Johanneskirche, beteiligte mich aktiv am Schulprojekt ‚Kambodscha-Hilfe‘ des St. Ursula-Gymnasiums und war Mitglied einer Theatergruppe, für die ich als 14-Jährige bereits die Stücke schrieb“, erinnert sich Steffi und fährt fort: „Ich war anders, aber ich wusste nicht inwiefern. Ich gehe Aufgaben strukturell an und versuche Probleme zu lösen, aber warum eine Formel in Physik funktioniert, das konnte ich nie erklären, das war für mich einfach so.“ Durch ihre eigene Struktur zu lernen, hatte Stefanie oft Schwierigkeiten der Logik des Lehrers zu folgen. „Diese Methoden sind auf den Durchschnitt der Schülerinnen und Schüler ausgelegt. Wer über oder unter diesem Durchschnitt liegt, hat Schwierigkeiten mitzukommen“.

Foto oben rechts: Dr. Stefanie Marzian

Sie fand es zwar merkwürdig, mit 14 Jahren den „Wachturm“ auf seinen Wahrheitsgehalt zu analysieren oder den Kommunismus zu untersuchen, aber dabei beließ sie es auch.
In der Oberstufe hatte sich die Dorstenerin dann zum ersten Mal hingesetzt und gelernt. „Ich wollte molekulare Biomedizin studieren, das ist wie Medizin ohne Patient“, lacht Steffi, „denn ich kann kein Blut sehen. Für den Numerus Clausus von 1.6 habe ich dann zum ersten Mal angefangen zu arbeiten.“ Den NC schaffte sie mit 1.3, das Studium mit 1.2. „Ich habe beim Auswendiglernen der vielen Medikamente irgendwann meine Grenze gefunden, da war der Kopf dann mal voll. Die Prüfung habe ich trotzdem mit 1 bestanden, aber von einer Hochbegabung war immer noch keine Rede.“
Während ihres Studiums heiratete die angehende Doktorandin und leitete gleichzeitig ein kleines Forschungsprojekt im Labor. Das Ergebnis, die Kommunikation zwischen den einzelnen Zellen und deren Funktion, stellte sie auf einem internationalen Kongress vor. Und selbst bei diesem außergewöhnlichen Werdegang kam das Thema Hochbegabung immer noch nicht zur Sprache.

Foto oben rechts: Dr. Stefanie Marzian

Steffi entschied sich gegen eine universitäre Laufbahn mit dem Ziel einer Professur und stattdessen für eine Familie. Sohn David kam 2010 zur Welt, 2014 folgte Julien. Während der Doktorarbeit konnte sie sich aufgrund eines erhaltenen Stipendiums voll auf ihre Familie und ihr Projekt konzentrieren, zog von Marburg zurück nach Dorsten und schrieb 2013 ihre Doktorarbeit. Zu Recht stolz sein kann sie darauf, dass sie in einer hoch dotierten Fachzeitschrift  publiziert wurde. 2014 schrieb Dr. Stefanie Marzian, wie sie sich nun nennen durfte, ihre Doktorarbeit auf Deutsch um, hält seitdem Vorträge und, Sie ahnen es sicher schon: Von Hochbegabung war nie …
Um Ruhe in ihren Kopf zu bringen, wurde sie 2017 Entspannungstrainerin. „Ich wollte etwas machen, das Einfluss auf das vegetative Nervenzentrum hat und dazu gezielte Techniken erlernen.  Auch werde ich ruhiger dadurch, dass ich gerne in der Region unterwegs bin. Ansonsten sind mein größtes Hobby und meine Leidenschaft der Verein HerausForderung e.V. und meine Fachvorträge. Zum Glück traf ich Daniela Kasche, mit der mich mittlerweile eine Freundschaft verbindet.“ Die damalige stellvertretende Schulleiterin holte sie als Quereinsteigerin an die Neue Schule in Dorsten. „Das war unser großes Glück, denn nur so habe ich nach zahlreichen Anlaufstellen und gelesenen Büchern endlich durch Tests herausgefunden, dass mein Sohn David hochbegabt ist. Und erst danach ließ auch ich mich testen, mit dem Ergebnis, dass ich kognitiv hochbegabt bin. Im Nachhinein erklärt das Ergebnis natürlich so Einiges. Es hätte jedoch mir für mein realistisches Selbstbild sehr gutgetan, es eher zu erfahren.“
Im Gegensatz zu seiner Mutter ist David kein begnadeter Schulgänger, mittlerweile ist er sogar ein kompletter Verweigerer. „Ich fiel nie auf, David dafür umso mehr. Ich lieferte gute Zensuren, David verweigert die Schularbeit. Er hat eine absolut klare Sicht auf die Welt und kann gut analysieren, aber er passt nicht in das bestehende Schulsystem.“
Durch das Förderprogramm, das Daniela Kasche sowie Dr. Stefanie Marzian auf den Weg brachten, nahm David zumindest an einigen Schulfächern teil. Das Programm in der Neuen Schule wurde gestrichen und Stefanie befürchtet, dass David dadurch keinen Schulabschluss erreichen wird. Aber nicht nur David ist der Leidtragende, auch andere Schüler, die wie David hochbegabte Minderleister sind, haben nun keine schulische Anlaufstelle mehr“, bedauern beide Frauen.

Foto oben rechts: Dr. Stefanie Marzian ist gerne in der Region unterwegs, um zu entspannen

Hochbegabte müssen nicht immer Überflieger sein, mit denen sich Schulen oder Vereine gerne schmücken, sie können auch das genaue Gegenteil sein. Deswegen Dr. Marzians Rat als Betroffene und als Mutter: „Lassen Sie ihr Kind oder auch sich beim Verdacht auf eine Hochbegabung testen, nehmen Sie Kontakt zum Verein HerausForderung auf und ersparen sich endlose Odysseen.
www.herausforderung.online

Text: Martina Jansen
Fotos: Christian Sklenak

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