Familientraditionen

von Martina Jansen (Kommentare: 0)

Familientraditionen

Die festlich gekleidete Frau wirft einen Blick auf den Tisch im Esszimmer.
Nein, heute ist er kein einfacher Tisch, heute ist er zur Tafel geworden. Festlich geschmückt mit dem alten Goldrand-Geschirr, dem Silberbesteck und den funkelnden Bleikristallgläsern. All das wird, wie bei einigen anderen Familien auch, in ihrer Familie von Generation zu Generation an diejenige weitergegeben, bei der sich die gesamte Familie am Heiligen Abend immer trifft. Die Frau nickt für sich, sie ist zufrieden. Die Dekoration aus Tanne und Kerzen ist perfekt geworden.

Als sie noch ein Kind war, konnte sie den ganzen „Aufwand“ um das Fest nicht verstehen. Ihr waren damals Geschenke wichtiger und auch die Tatsache, dass sie den ganzen Tag Nüsse knacken und Schokolade essen konnte, gefiel dem Mädchen natürlich sehr. Nun ist das junge Mädchen selbst Mutter und auch Großmutter, aber erinnert sich noch genau daran, wie ihre Mutter zusammen mit ihrer Großmutter und ihren Tanten schon Tage vor dem Fest das Geschirr, das ausschließlich zu Hochzeiten und Weihnachten benutzt wurde, auspackten, begutachteten, spülten und sorgfältig abtrockneten. Ganz vorsichtig wurde es behandelt, im Gegensatz zu unserer heutigen Wegwerfware, bei denen es auf ein paar Kratzer oder abgeschlagene Ecken überhaupt nicht ankommt. Ist etwas kaputt, wird es halt neu gekauft.
Stundenlang polierten die Frauen der Familie damals gemeinsam die Gläser, solange, bis sie Weihnachten mit den Augen der Kinder um die Wette strahlen würden. So viel Arbeit, für, ja wofür eigentlich? Als junge Frau hätte die heutige Gastgeberin sicherlich geantwortet „für nichts“, heute würde sie sagen „für den Erhalt der Familientradition.“

Familientradition bedeutet, dass es, seit sie zurückdenken kann, am Heiligen Abend Kartoffelsalat mit Würstchen und am Ersten Weihnachtstag bei ihnen Gans mit Rotkohl und Klößen gibt. Familientradition bedeutet auch, dass das Weihnachtszimmer erst am Heiligen Abend betreten wird und die Kleinsten der Familie die Erwachsenen mit ihren Blockflöten beim Singen der Weihnachtslieder begleiten. Und in ihrer Familie ist es auch Tradition, dass das Baumschmücken Männersache ist und das älteste Familienmitglied die echten Wachskerzen am Baum anzünden darf.  

Seit ein paar Jahren ist sie nun selbst gerne die Gastgeberin und die Familie trifft sich bei ihr. Und so, wie sie den „Aufwand“ früher nicht verstanden hat, so ist sie davon überzeugt, dass auch ihre Enkelkinder die Augen verdrehen werden, wenn sie ihre Mutter und Großmutter lange in der Küche hantieren sehen. Wenn auch sie verständnislos beobachten, wie sie stundenlang spülen, polieren, den Tisch decken und dabei Spaß haben.
Nach all der stressigen Zeit der Vorbereitung, des Konsums und der manchmal ungewollten Beschallung in den Geschäften, ist diese Tätigkeit eine Möglichkeit abzuschalten, durchzuatmen, zur Ruhe zu kommen. Jetzt ist es zu spät, falls eine Zutat fürs Festmahl fehlen sollte. Nun ist es zu spät, zu überlegen, ob man das Geschenk besser doch wieder umtauschen sollte, da es dem Beschenkten möglicherweise nicht gefallen könnte. Gleich zählt nur noch der Moment, der in jeder Familie anders zelebriert wird.

Die Frau des Hauses atmet noch einmal tief durch und schließt die Tür. Der Heilige Abend kann kommen.

Text: Martina Jansen
Fotos: pixabay

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