Heute treffe ich Ingelore Lindner

von Martina Jansen (Kommentare: 0)

Heute treffe ich Ingelore Lindner

Fast 50 Jahre „Herzblut-Hebamme“ und ein „Mondbaby-Jubiläum”

Es gibt wohl kaum eine Dorstenerin, die innerhalb der letzten 41 Jahre im gebärfähigen Alter war und Ingelore Lindner nicht kennt. Viele von ihnen haben viele Stunden ihres letzten Schwangerschaftsdrittels in einem der Geburtsvorbereitungskurse mit der beliebten Wulfener Hebamme verbracht oder später auch ihre Nachsorge in Anspruch genommen.

„Nach 49 Jahren als Hebamme habe ich mir vor zwei Jahren den Ruhestand redlich verdient“, schmunzelt Ingeborg Lindner, „und ich würde alles wieder genauso machen.“ Sie scheint nicht älter geworden zu sein und auch ihre markante Stimme und das Lächeln sind geblieben. Beim Betreten ihres Zuhauses fühlte mich schlagartig um 25 Jahre zurückversetzt. Auch ich gehörte damals zu den Frauen, die mit Kissen und Handtuch unterm Arm regelmäßig zum „Hechelkurs“ gingen, wie der Abend unter Gleichgesinnten genannt wurde – und vielleicht auch heute noch so heißt.

Am 22. März 1969 bestand Ingelore Lindner ihr Examen als jüngste Hebamme Niedersachsens mit gerade mal 19 Jahren. Mit Sondererlaubnis konnte sie diese Ausbildung beginnen, da sie bereits vorher drei Jahre als Pflegevorschülerin im Krankenhaus tätig war. „Ich erinnere mich noch an den Satz meines Professors in der Ausbildung: ‚Wenn eine Hebamme mit der schwangeren Frau spricht, dann hat sie die Hände auf dem Rücken‘. Dieser Satz hat mich mein Leben lang begleitet, denn nur so kam ich nicht in die Verlegenheit, unnötige Untersuchungen bei den Frauen durchzuführen“, betont die 69-Jährige. Unmittelbar nach ihrem Examen bekam die Braunschweigerin in Gelsenkirchen eine Anstellung als Hebamme und half hier exakt vor 50 Jahren, am 21. Juli 1969, dem Gelsenkirchener „Mondbaby“ auf die Welt. „Die werdende Mutter und ich verfolgten damals beide im Radio die erste Mondlandung“, erinnert sich Ingelore Lindner und fährt fort: „Aber dann kamen die Presswehen und wir bekamen diesen großen Moment nicht mit, denn genau um 3:56 Uhr kam das kleine Mädchen auf die Welt.“

Sieben Jahre später machte sich Ingelore Lindner als Landhebamme selbstständig, besetzte die Nachtwachen in den Marler, Dorstener und Gelsenkirchener Krankenhäusern und bot Geburtsvorbereitungskurse in ihrem Haus sowie in den beiden Dorstener Familienbildungsstätten an.

Foto oben rechts: Ingelore Lindner, DIE Wulfener Hebamme

Aufgrund ihrer langen Praxiserfahrung wusste sie Antworten auf alle Fragen, die die werdenden Mütter beschäftigen. Auch den Weg, den das Ungeborene nehmen muss, demonstrierte die taffe Hebamme in ihren Kursen sehr anschaulich anhand einer selbst gestrickten Gebärmutter, einer genähten Fruchtblase sowie einer Babypuppe mit abnehmbarer Nabelschnur. Den engen Weg der Puppe durchs Becken begleitete sie dabei mit den Worten: „Das passt schon, denn es gibt nichts Natürlicheres als eine Geburt!“

Das weibliche Becken aus Luftpolsterfolie mit beweglichem Steißbein fertigte sie damals maßstabsgetreu anhand einer Kunststoff- Knochenfrau an. „Ich weiß noch, wie ich mit dem fahrbaren Skelett aus der Praxis von Dr. Haase über den Marktplatz zu meinem Auto ging“, erinnert sich die Wulfenerin lachend.

Ingelore Lindner war es immer ein großes Bedürfnis, gerade die Eltern zu unterstützen, die kranke oder verstorbene Kinder zur Welt brachten, denn dieses Thema wurde lange Zeit tabuisiert. Als selbstständige Hebamme hatte sie dazu die Gelegenheit, die sie auch wahrnahm. Ab dem Jahre 1983 wurde die Nachsorge immer wichtiger, sodass Ingelore Lindner sie als erste Hebamme in Dorsten und Umfeld anbot und sich somit noch intensiver um alle Mütter zu kümmern konnte. Und so hat sie sicherlich fast jeden Wulfener Nachwuchs in den letzten 35 Jahren eigenhändig gewogen, gewickelt und beruhigt – und mittlerweile auch schon deren Kinder.

Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit Ingelore Lindner nach meiner Entbindung. Wie alle anderen stolzen Mütter wollte ich natürlich auch meine wunderschöne Prinzessin zeigen. (Dass Mütter meinen, sie hätten das allerschönste Baby hat evolutionstechnische Gründe, die aber mit der Zeit nachlassen.) Doch statt Bewunderung hörte ich nur Ingelore Lindners strenge Worte: „Frau Jansen, Frau Jansen, was machen Sie denn bei dem Wetter draußen mit einem Neugeborenen? Ab nach Hause!“ Und so schob ich den Kinderwagen mit hängenden Schultern nach Hause. So ist sie nun mal, die Frau Lindner: eine Frau der klaren Worte, der man aber nicht böse sein kann.

Nun, nach 49 Berufsjahren, kann sie mit ihrem Mann Gerd endlich auch mal etwas längeren Urlaub machen. Das ging lange Zeit nicht, da immer eine Frau in der Zeit entbinden sollte. Aber so ganz abgeschlossen hat Ingelore Lindner mit ihrem Hebammendasein nach exakt 9876 Frauen, die sie während der Geburt oder auch vorher betreute, und den 10.000 Kindern, die sie auf den Geburtstationen auf die Welt geholt hat, dann aber doch nicht. So ist die Wulfenerin immer noch Kreisvorsitzende Recklinghausen im Landesverband der Hebammen in NRW, stattet Bekannten, die Großeltern werden, gerne einen Besuch ab und schenkt ihnen dabei die „Großmuttertasche“ mit hilfreichen Schriften und nützlichen Restbeständen wie Schnuller oder Windeln aus ihrem langen Arbeitsleben. Auch als Oma dreier Enkel ist ihr Wissen heute noch gerne gefragt – Ingelore Lindner bleibt also für einige Frauen weiterhin die Wulfener Landhebamme.

Foto oben rechts: Die von Ingelore Linder selbst gestrickte Gebärmutter existiert nal den Jahren immer noch

Text: Martina Jansen
Fotos: Christian Sklenak

Zurück