„Erinnern für die Zukunft“
von Martina Jansen (Kommentare: 0)
„Erinnern für die Zukunft“
Rede von Bürgermeister Tobias Stockhoff zum 22. März 2021, dem 76. Jahrestag der Zerstörung der Stadt Dorsten und des Dorfes Wulfen durch einen Bombenangriff
Liebe Dorstenerinnen und Dorstener,
der 22. März 1945 ist ein besonderer Tag in der Geschichte unserer Stadt.
An diesem Tag starben über 300 Menschen, als um kurz nach 10 Uhr das Dorf Wulfen und um 14 Uhr die Dorstener Altstadt durch Bombenangriffe in Schutt und Asche versanken. Über 90 Prozent der Gebäude wurden zerstört.
Der Krieg und der Terror, der von deutschem Boden ausging und in ganz Europa und großen Teilen der Welt Angst, Tod und Schrecken auslöste, kehrte an diesem Tag in die Heimat zurück.
Unter der Überschrift „Erinnern für die Zukunft“ gedenken wir in Dorsten und Wulfen alljährlich dieses besonderen Tages.
Dieser Tag ist für uns Anlass, aller Opfer von Krieg, Terror, Holocaust und Gewalt zu gedenken.
Das Ganze ist jetzt 76 Jahre her. Eine lange Zeit. Nicht selten hört man den Satz: „Was habe ich heute damit zu tun?“
Auf diese leichtfertige Frage hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker bereits 1985 in einer vielbeachteten Rede eine zutreffende Antwort gegeben. Er sprach damals am 8. Mai, dem 40. Jahrestag des Kriegsendes, vor dem Deutschen Bundestag:
„Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.
Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische Überheblichkeit.
Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden.
Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.“
Ja, wir dürfen an diesem 22. März 2021 – 76 Jahre danach – dankbar sein, dass wir uns das Vertrauen unserer Nachbarn, in Europa und der Welt zurückerarbeitet haben. Wir sind inzwischen ein wichtiger und stabiler Teil der Demokratien in der Welt und in Europa.
Ich möchte heute noch einen zweiten Blick auf diesen 22. März 1945 richten. Um es genauer zu sagen: Auf die Zeit danach.
Unsere Stadt Dorsten und mein Heimatdorf Wulfen lagen in Trümmern. Häuser, Geschäfte, Schulen und Kirchen waren zerstört. Hunderte von Menschen waren ohne Dach über dem Kopf und waren traumatisiert vom Krieg und den Folgen auch dieser beiden Bombenangriffe.
Was haben unsere Eltern und Großeltern nach dieser Zeit demokratisch, gesellschaftlich, moralisch und wirtschaftlich doch Unglaubliches geleistet!?!
Innerhalb weniger Jahre wurde unsere Stadt, wurden die Stadtteile und Dörfer wieder aufgebaut und die Kriegsschäden beseitigt. Die Demokratie kam zu neuer Blüte und die Menschen versuchten an einem Strang zu ziehen.
Liebe Dorstenerinnen und Dorsten,
im Krieg und in der Krise, heißt es, zeigt sich das wahre Gesicht eines Menschen:
Es gibt die, die zu Lasten des Nächsten ihren Vorteil suchen.
Es gibt aber auch die, die mit dem Nächsten teilen, obwohl sie selbst in Not und Mangel leben.
Es gibt die, die Hass und Unfrieden säen.
Es gibt aber auch die, die Mitmenschlichkeit und Solidarität leben.
Es gibt die, die immer alles besser wissen, aber nur kritisieren, statt ihr (Besser)Wissen hilfreich einzusetzen.
Es gibt aber auch die, die pragmatisch Lösungen suchen und gemeinsam zusammenstehen.
Auch in dieser Krise bzw. dieser Pandemie zeigen sich wieder diese beiden Gesichter:
Die schreienden Hetzer(innen), die raffgierigen Krisenprofiteure, die Impfvordrängler(innen) und die Egoisten, denen es nur um ihr Wohl geht.
Aber eben auch die solidarischen Mitbürger(innen), die selbstlos Dienenden und Wirkenden an allen Stellen unserer Gesellschaft und die Menschen, die ihr Wohl zurückstellen.
Es werden uns in den nächsten Wochen und Monaten weiterhin Herausforderungen bevorstehen – bekannte und auch unbekannte Dinge, die uns fordern, manchmal auch überfordern werden.
Lassen Sie uns als Stadtgesellschaft mit Verstand und Solidarität zusammenstehen und uns gemeinsam die Herausforderungen pragmatisch, solidarisch und – wer glaubt – mit Gottvertrauen annehmen.
Der 22. März 1945 mahnt uns zur Verantwortung für Gegenwart und Zukunft.
Er macht uns gleichsam aber auch Hoffnung!
Wenn wir uns an diesem 22. März nicht nur der Schrecken, der Zerstörung und der Opfer erinnern, sondern auch der Tugenden, mit denen die Dorstenerinnen und Dorstener die Stadt wieder aufgebaut haben, dann dürfen wir der guten Hoffnung sein, dass wir als Stadtgesellschaft auch diese Herausforderung meistern werden.