„Wir sind dann mal weg“

von Martina Jansen

„Wir sind dann mal weg“

Von Starnberg nach Bardolino – zwei Frauen überqueren die Alpen

„Ich würde ja gerne, aber…“
„Ich habe mir das für später vorgenommen, wenn…“
„Ich schaffe das nicht…“
All diese Argumente ließ Gabriele Reiß für sich nicht gelten. Aus einem „Ich würde ja gerne“ machte sie ein „Ich tue es“ und aus „später“ wurde „jetzt“. Und so startete sie 2011 gemeinsam mit ihrer Freundin Heike Krüger, um die Alpen zu überqueren.
„Ich habe Arthrose in den Knien, schwache Fußgelenke und Probleme mit dem Rücken. Drei Gründe, auf anstrengende Bergtouren zu verzichten – wenn da nicht die Sehnsucht wäre.“ 

Besser wird es nicht mehr - und was nicht zu gehen scheint, wird passend gemacht. „Jeder muss sich seinen eigenen Weg suchen und wenn man nicht bergab laufen kann, dann nimmt man eben die Seilbahn“, bringt sie es auf den Punkt.
Oder wie die Österreicher zu sagen pflegen: „Ist der Berg auch noch so steil, a bisserl was geht allerweil.“ 

Nach insgesamt 39 durchgeführten Rucksacktouren fühlte sich die Dorstenerin erfahren und sicher genug, um dieses Abenteuer anzugehen. Fit hält sie sich dafür das ganze Jahr über mit drei Trainingseinheiten pro Woche, vorrangig mit Ausdauertraining für Herz und Kreislauf – den Lippe-Damm mehrmals rauf und runter, Gehen im Gelände und Bergan-Training auf dem Laufband.

Foto oben rechts: Rast vor der Kulisse der Brenta-Dolomiten

Mit Heike, der Schwägerin ihrer Schwägerin, konnte sich Gabriele Reiß die Tour gut vorstellen, die beiden wanderten mehrere Male zusammen. „Heike ist eine wunderbare Gefährtin, unkompliziert, fröhlich, ausgeglichen, nie wehleidig. Sie weiß ihre Fähigkeiten gut einzuschätzen und tritt entschlossen dafür ein. Und was im Gebirge so wichtig ist: Mit ihr ist es möglich, stundenlang zu schweigen“, beschreibt die Wanderin und Autorin ihre Begleiterin aus Klein-Reken.
40 Tage lang waren die beiden Frauen unterwegs, aufgeteilt in fünf Etappen, verteilt über dreieinhalb Jahre. Sie starteten vom Starnberger See aus und dann ging es immer weiter nach Süden. Begleitet wurden sie von einem symbolträchtigen Weggefährten, einem Stein, den sie aus dem Starnberger See fischten, mit einem Eulengesicht bemalten und ihn in Bardolino in den Gardasee werfen wollten.

Foto rechts: Der Weg des Eulensteins. Die Strecke benannten Gabriele Reiß und Heike Krüger nach einem Stein, welchen Sie am Start der Tour als Maskottchen aufnahmen.

700 Kilometer legten die beiden Abenteuerinnen zu Fuß zurück und bewältigten dabei 17.000 Höhenmeter beim Aufstieg und 5.000 Höhenmeter beim Abstieg. Das bedeutete 40 Tage zahlreiche Begegnungen mit Mensch und Tier, 40 Tage immer wieder andere Perspektiven, 40 Tage lang eine andere Welt.
Gabriele Reiß hatte die Route selbst entworfen. Das Ergebnis war eine ungewöhnliche Überquerungsroute mit atemberaubenden Landschaften, aber auch mit öden Streckenabschnitten längs der Brennerautobahn oder der Uferstraßen des Gardasees. „Je einsamer die Gegend wurde, um so stärker wurden unsere Empfindungen“, erinnert sich Gabriele Reiß. „Das Bergwandern ist eine sehr starke emotionale Angelegenheit. Mancher Anstieg fühlt sich an wie eine Geburt: Man gibt alles und wenn man es geschafft hat, dann schäumt man über vor Endorphinen. Daher sind Gefühlsausbrüche wie Weinen oder ausgelassenes Gelächter aufgrund der Anstrengungen ganz normal.“

Foto oben rechts: Rifugio Silvio AgostiniVal d’AmbiezBrenta-Dolomiten, 2.400 hm. Die Felsbrocken neben und oberhalb der Hütte stammen von einer Steinlawine aus dem Jahr 1957.

Gabriele Reiß hat nicht nur ihre körperlichen Grenzen erfahren. Ihr Kopf wurde frei, sie hatte Zeit genug nachzudenken. So sieht sie die Reise unter vielen verschiedenen Aspekten: Entschleunigung, Solidarität, Aufbruch, Gemeinsamkeit, „Ent-Lastung“. Aber auch real hat sie sich von Last befreit. So wurde ihr Rucksack von Etappe zu Etappe leichter. Das Anfangsgewicht von zehn Kilo schrumpfte bis zur Venetien-Etappe auf sechs Kilo. Dennoch ist sie notfallmäßig bestens ausgerüstet und Garderobe braucht sie wenig. „Ich wasche meine Kleidung oft durch und habe nur wenig Auswahl. Und dort oben sehen mich fremde Menschen ja eh nur einmal.“

Foto oben rechts: Gabriele Reiß und Heike Krüger blicken auf das Hafelekar, Insbruck und das Wipptal.

Im Sommer wird sich die gebürtige Gelsenkirchenerin wieder auf den Weg machen und im Alleingang den Alpenfluss Inn abwandern. Und – was Sie, liebe Leserin, lieber Leser, jetzt vielleicht nicht verwundert – entgegen der „üblichen“ Tour von der Quelle zur Mündung, startet  Gabriele Reiß an der Donau und folgt dem 520 Kilometer langen Fluss bis zum „Überlauf“ des Lunghinsee in der Schweiz. Die Idee spukt der 64-Jährigen schon lange im Kopf herum – genaugenommen seit sie mit 20 Jahren Hermann Hesses Erzählung „Siddhartha“ las. In diesem Roman findet ein Mönch die Erleuchtung am Fluss. Erleuchtung strebt die Wanderin nicht an, aber sie möchte wie Siddhartha vom Fluss lernen und ihm Zeit ihres Lebens schenken. Auch aus dieser Reise wird ein Buch entstehen, mehr wird hier jedoch noch nicht verraten.

 „Ich bin gespannt, wie sehr sich der Fluss auf meiner langen Reise verändern wird. Mal habe ich ihn auf der rechten, ein anderes Mal auf der linken Seite, mal fließt der Inn gemächlich, dann wieder schneller, er verändert seine Farbe und fließt durch verschiedene Landschaften.“ Gabriele Reiß gibt ihrem Körper prinzipiell die Zeit, die er für die Wanderung benötigt, begrenzt sie dennoch auf sieben Wochen. Einmal wird sie ihre Reise unterbrechen, um bei der Einschulung ihrer Enkelin dabei zu sein, danach macht sich die „Sehnsuchtsstifterin“ wieder auf ihren langen, einsamen Weg.

Foto oben rechts: Sommerschnee am Brenner und eine der zahllosen Begegnungen mit Kühen.

All ihre Erfahrungen, Gefühle und Grenzsituationen während der Wanderungen hat Gabriele Reiß in dem Buch „Steinreich, vogelfrei – Ein Weg wie kein anderer. Zwei Frauen überqueren die Alpen“ niedergeschrieben. Sie möchte ihren Lesern Mut machen loszugehen, die Freiheit zu erleben und ihren Träumen zu folgen. Weitere Infos über die Alpen-Abenteurerin, ihre Strecke und Termine ihrer Vorträge finden Sie auf der Webseite www.gabriele-reiss-wandert.de

„Wie das Wandern verlangt auch das Schreiben einen langen Atem. Man braucht Halt, wenn man strauchelt, Anregungen, Ermutigung, Kritik.“ (Zitat Klappentext „Steinreich, vogelfrei“)

Foto oben rechts: Gabriele Reiß (links) und Heike Krüger

Text: Martina Jansen
Fotos: privat

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