Waltraud Klobusch, eine Zeitzeugin erinnert sich

von Martina Jansen

Waltraud Klobusch, eine Zeitzeugin erinnert sich

Ich bin zum Essen eingeladen. Nicht in einem der Dorstener Lokale, sondern bei Waltraud Klobusch zu Hause, denn sie kocht selbst.

Berührungsängste kennt die 86jährige nicht, wer zur Essenszeit ihrer Tochter auf der Schildkrötenstation hilft, bleibt halt. So wird dann um halb eins ein Teller mehr dazu gestellt. Das ist so, war immer so und wird auch immer so bleiben.
Hier im Hause Klobusch werden keine Salatblätter in das kalorienarme Dressing gedippt, hier wird herzhaft zugelangt, denn die Hausherrin  kocht mit Liebe und mit Kalorien. Es interessiert niemandem, ob das Blumenmuster der Servietten farblich zum Gemüse passt, hier steht die Geselligkeit, das Gemeinsame im Vordergrund.

So sitzen wir also zu siebt am Esstisch und erzählen, lachen oder hören einfach nur zu. Und dann erzählt Waltraud, wie ich sie jetzt auch nennen darf, von früher, vom Krieg, von ihrer Schule, von Dorsten, von ihrer Familie. Geschichten, die spannend sind, amüsant, aber auch berühren und uns die Tränen in die Augen treiben.
Das ist Zeitgeschichte pur, vorgetragen von einer Frau, die seit ihrer Geburt in Dorsten lebt, ihre Heimat liebt und die im Kopf absolut jung geblieben ist.

Prägend war der zweite Weltkrieg nicht nur für die Stadt Dorsten, sondern natürlich auch für Waltraud Klobusch selbst. So kann sie sich noch sehr gut an Gebäude erinnern, die es jetzt schon lange nicht mehr gibt. An den Drubbel zum Beispiel, der kleinen Häuserinsel mitten auf der damaligen Einkaufsstraße, auch das „Meyersche Haus“ genannt. „Manchmal sehe ich im Geiste noch die alte Frau, die dort gelebt hat und regelmäßig mit einer Schüppe die Pferdeäpfel aufsammelte, um ihr Gemüse damit zu düngen“, schmunzelt sie. Leider wurden mit dem Drubbel auch etliche andere Häuser in Dorsten zerstört, das Restaurant Freitag im Lippeloch zum Beispiel oder das Franziskanerkloster, nur um einige zu nennen. „Nur das Seidemannshaus, das blieb stehen.“

Die Angst vor den Angriffen war damals immer präsent. „Gab es Alarm“, so erzählt die äußerst sympathische alte Dame weiter, „nahmen wir den stets gepackten Koffer, schnappten uns das Erstbeste zum Essen und machten uns geduldig auf in Richtung der Schutzräume."
Geduld. Habe ich heutzutage eigentlich noch Geduld? Verlange ich nicht schon ungeduldig beim Diskounter nach einer zweiten Kasse, auch wenn nur drei Personen vor mir an der Kasse stehen?

Nach einer ganzen Weile steht die weißhaarige Erzählerin mit den Worten „Jetzt gibt es erst mal Kaffee“ auf und geht in die Küche. Wir helfen ihr beim Abräumen und beim Neudecken, denn es gibt auch Kuchen. Das ist hier bei der Bäckerin aus Leidenschaft ein Muss.
Sie bringt Fotos mit, alte teilweise verknickte Schwarz-weiß-Fotos, manche sogar noch mit Sütterlinschrift auf der Rückseite. „Das bin ich mit meinen beiden Brüdern, die zum Glück heil aus dem Krieg zurück gekommen sind“, fischt sie ein Bild aus der Fotoschachtel. Zwei wirklich fesche Burschen in Uniformen und zwischen ihnen der hübsche Teenager. Nicht weniger ansehnlich, so wie es auch Kommunionmädchen in der heutigen Zeit sind, zeigt sie auf einem anderen Foto 1938 ganz in weiß mit einer Kerze. „Auch wenn wir nicht viel hatten, chic wollten wir trotzdem sein“, klärt uns die Dorstenerin auf. Manche Mütter haben daher ihren Töchtern damals Kleider gestrickt, in dem sie Kartoffelsäcke aufgetrennt und die Fäden aufgewickelt haben.

Foto oben rechts: Der zweite Weltkrieg war zu Ende, Waltraud Klobusch als Teenagerin

„Wir brauchten früher keine so großen Einkaufscentren, wir gingen nach Hill oder Bieker, da bekamen wir auch alles“, erzählt sie weiter „Und unsere Bonbons kauften wir früher noch mit abgezähltem Kleingeld im Selterwasserbüdchen.“ Auf meine Frage, ob sie denn schon mal in den Mercaden war, bekam ich als Antwort ein klares „nein“. Offen blieb, ob Waltraud nicht gewollt oder es einfach dort hin nur noch nicht geschafft hat.

Wir sehen uns weitere Bilder an, die natürlich nicht chronologisch sortiert sind: Das alte Desumacenter, das den oben genannten „Mercaden“ Platz machen musste, der Bau der Hochstadenbrücke, die Wiedereröffnung des Kanals und der neuen Schleusen, Schulkinder , die Jungs in Lederhosen, die Mädchen mit Schürzen vor ihren Kleidern, Waltraud auf einem Motorrad und Waltraud im Petticoat in den 50er Jahren. Wie sehr sich die Mode heutzutage geändert hat, sehen wir auch an der Bademode. Züchtig gekleidet in Badeanzügen, die damals zehnmal mehr Stoff besaßen als heute, ging man in der offiziellen Badeanstalt im Lippetal schwimmen.

Waltraud Klobusch sah Bürgermeister kommen und gehen, hat die Aufregung um den Besuch des damaligen  NRW Ministerpräsidenten  Johannes Rau in der Neuen Stadt Wulfen miterlebt und als Twen die Rede des Bundeswirtschaftsmisters Ludwig Erhard auf der Zeche mitbekommen. Sie sah die zahlreichen Bergleute des Bergwerks „Fürst Leopold“ die, aus Angst um ihre Arbeitsplätze, Mahnwachen abhielten, aber leider nicht verhindern konnten, dass die Zechen dennoch geschlossen wurden.

Und zu jedem Foto fallen ihr weitere Details ein. So erfahren wir, dass die Schiffbauerstraße im Lippetal logischerweise Schiffbauerstraße heißt, weil dort Segel- und Ruderboote gebaut wurden und von der Hansestadt Dorsten über die Lippe verschifft wurden.

Mir kommt noch einmal ihre Beschreibung in den Sinn, als ein Panzerfahrer mit all seinen Kollegen, samt Panzern Halt in Hervest machte, um noch einmal seine Frau zu sehen, bevor er in den Krieg zieht. „Alle Nachbarn stellten Tische und Stühle nach draußen, holten heraus, was der Vorratsschrank hergab und tischten auf“, kamen mir Waltrauds Worte von vor einer halben Stunde wieder in den Sinn. „Niemand wusste, wie viel er morgen oder nächste Woche noch zu essen haben würde, aber in der Not war man verbunden.“

Nachbarschaftshilfe und Geduld sind zwei Werte, die möglicherweise abhanden gekommen sind, aber es gibt auch Positives von der Zeit des Kriegs zu berichten, etwas, das bis heute Bestand hat.
„Ich habe damals zum ersten Mal in meinem Leben einen farbigen Mann gesehen“, erinnert sich Waltraud noch an ihre erste Begegnung  mit einem amerikanischen Soldaten. „Ich hatte fürchterliche Angst, als er in voller Montur, mit dem Gewehr in der Hand das Tor zum Bunker öffnete. Aber dann bemerkten wir, dass er kam, um uns zu helfen“, spricht sie mit einem Lächeln auf den Lippen weiter.
Zum Glück gehören seitdem Andersfarbige, Andersgläubige und Anderslebende zu unserem Stadtbild und werden auch akzeptiert und integriert. Denn wir haben alle eine gemeinsame Nationalität: „Mensch“

Foto oben rechts: Die sechsjährige Waltraud Klobusch mit Puppenwagen im Kindergarten.

Text: Martina Jansen
Fotos: privat

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